„Mein Cousin hat’s verbockt“, sagte meine Großtante*. - „Was denn?“ - „Seine Ehe“, sagte meine Großtante. - „Woher willst du das wissen?“, erlaubte ich mir zu fragen. - „Ich weiß es von seiner Frau, äh, Ex-Frau.“ - „Aber ist das nicht ein bisschen einseitig?“, hakte ich nach. - „Na ja, er wollte über das Thema mit mir nicht reden. Er hat sich überhaupt komplett zurückgezogen.“ - „Weitere Diskussion zwecklos“, dachte ich mir und ließ es dabei bewenden.
Meine Großtante und nicht nur sie, nein, wir alle verstoßen leider oft genug gegen einen Grundsatz, der da heißt:
„Auch die andere Seite muss gehört werden“, auf lateinisch: „Audiatur et altera pars“. Wenn ich richtig sehe, findet sich dieser Satz zum ersten Mal in Senecas Tragödie „Medea“.
"Wer etwas beschlossen hat, ohne dass er die andere Seite angehört hat, ist nicht gerecht, selbst wenn er etwas Gerechtes beschlossen hat."
Seneca: Medea 199f. (Übersetzung von mir)
Dieser Satz ist einer der berühmtesten Rechtsgrundsätze. „Mag sein“, sagen Sie vielleicht, „aber was hat das mit mir zu tun? Ich sitze doch schließlich nicht zu Gericht.“
Eben doch! Meine Großtante saß zu Gericht, und zwar über ihren Cousin. Sie hatte ein Urteil gefällt, ohne die andere Seite zu kennen. Ich hoffe, ich muss Ihnen hier nicht erklären, dass nie eine Seite zu 100 Prozent recht hat. Wenn das zum Beispiel auf einen Ehepartner zuträfe, müsste er unbedingt ins Guiness-Buch der Rekorde.
Wichtig für Ihre Entscheidungen
Jetzt aber zu den Gründen, warum Sie sich unbedingt immer die andere Seite anhören und auch mitteilen sollten: Wenn Sie nur eine Seite hören, wird Ihr Urteil nicht ausgewogen und damit nicht zutreffend sein. Und wenn Ihr Urteil nicht ausgewogen ist, werden Sie keine gute Entscheidung treffen können. Und wenn Sie keine gute Entscheidung treffen können (das hängt noch von anderen Faktoren ab, wie Sie vom Entscheidercoach lernen können), werden Sie sich falsch verhalten. Und wenn Sie sich falsch verhalten, werden Sie mit den Konsequenzen leben müssen.
Nur ein Beispiel: Weil ich dem schlechten Gerede eines Bekannten über einen anderen Bekannten Glauben geschenkt habe, ohne mir die andere Seite anzuhören, habe ich letzteren gemieden. Erst Jahre später stellte ich fest, dass er ein feiner Kerl ist.
Wichtig für Sie als Ratgeber
So, jetzt wende ich mich an Sie als Berater oder Beraterin. Das sind wir alle nämlich, ob wir unser Geld damit verdienen oder nicht. Wenn wir um Rat gefragt werden und dann eine Empfehlung geben, sind wir Berater.
Also, wenn jemand zu Ihnen kommt und sich über seine Chefin, seinen Ehemann oder seine Nachbarin beklagt und Sie fragt, was er tun soll - dann halten Sie erst einmal inne. Und stellen Sie Ihrem Gesprächspartner die Frage, was denn die andere Seite zu diesem Thema sagen würde. Erst dann haben Sie die Chance, einigermaßen ausgewogen eine Empfehlung abzugeben. Viele Ratgeber hören sich nur die Klagen ihres Gegenübers an und geben auf dieser Basis einen Rat, und damit einen schlechten Rat. Ich hoffe, Sie gehören nicht dazu.
Wichtig für Sie als Ratsuchende(r)
Zum Schluss: Sie werden nicht nur Rat geben, sondern auch Rat suchen. Einer der größten Fehler, den Sie dabei machen können: Dass Sie nur Ihre Version der Angelegenheit zum Besten geben. Wenn Ihr Ratgeber nicht selbst so schlau ist, der anderen Seite Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Wie soll er Ihnen einen guten Rat geben? Mehr muss ich dazu nicht sagen, finde ich.
PS. Es gibt Fälle, in denen es indiskret ist, die andere Seite um ihre Version der Dinge zu bitten. Die Einstiegsszene mit meiner Großtante ist ein Beispiel dafür. In diesem Fall sollten Sie sich des Urteils enthalten. Oder sich in die Version der anderen Seite hineindenken - und dann vorsichtig Ihr Urteil fällen. Vorsichtig.
*Großtante: Es handelt sich nicht um eine meiner Großtanten. Wie immer habe ich die Angaben geändert und anonymisiert.
Danke für die sehr klaren, logischen und wertvollen Gedanken!