"Er sprach mit großer Bestimmtheit, äußerte Ansichten, die schneidend waren wie Klingen."
Guy de Maupassant: Beichte einer Frau, in: derselbe: Fünfzig Novellen, ausgewählt und aus dem Französischen übersetzt von N. O. Scarpi, Zürich 2002, S. 157-164, hier: S. 158.
Ja, und? Was ist daran so schlimm? Es muss doch nichts Schlimmes daran sein, bestimmt zu sprechen, im Gegenteil. — Moment, es geht noch weiter:
"Man spürte, dass sein Geist von fix und fertigen Gedanken erfüllt war, die sein Vater und seine Mutter ihm eingeprägt hatten und die ihnen wiederum von ihren Ahnen vererbt worden waren."
Ebenda.
Auch das muss nicht schlimm sein, im Gegenteil, darf ich erneut sagen. Dafür ist Erziehung ja gut, dass man von seinen Eltern geprägt wird und dies an seine Kinder weitergibt und immer so weiter. — Aber die Charaktierisierung geht weiter:
"Er zögerte nie, gab zu allem eine festgelegte, bornierte Ansicht zum besten, ohne die leiseste Verlegenheit und ohne zu begreifen, dass man die Dinge auch anders betrachten konnte."
Ebenda.
Aha! Jetzt kommen wir der Sache näher! Der Mann war so von sich und seinen Überzeugungen überzeugt, dass er gar nicht auf die Idee kam, es könne auch mal anders sein. Er war der Auffassung nicht zu irren, nie zu irren. Oha, das ist keine schmeichelhafte Charakterisierung. Und Maupassant setzt noch einen oben drauf:
"Man spürte, dass dieser Kopf vermauert war, dass darin keine Ideen kreisten, jene Ideen, die den Geist erneuern und auffrischen wie der Wind, der durch ein Haus weht, dessen Türen und Fenster man öffnet."
Ebenda.
So, mehr brauchen wir nicht zu wissen. Ziemlich vermauert, dieser Typ. Mir ist gleich jemand eingefallen, der derart vermauert sind. Ihnen sicherlich auch, oder?
Und jetzt schaut Maupassant Sie an. Mich schaut er auch an. Und er fragt uns: Sind wir vielleicht auch ein klitzekleines Bisschen vermauert?
Na?
Das wäre schade. Wir würden uns vieler schöner Dinge berauben. Wir würden immer auf unserem Wissensstand verbleiben. Wir würden keine neuen Erfahrungen mehr machen. Wir würden uns nicht weiterentwickeln können. Das wäre eine traurige Perspektive.
Ich wollte zuerst hier aufhören. Aber vielleicht hilft es, das Ganze positiv zu formulieren.
Also: Seien Sie Neuem gegenüber zugänglich! Seien Sie aufgeschlossen! Sie müssen sich ja nicht alles sofort zu eigen machen. Sie können ja gerne Ihre Grundsätze behalten. (Wobei, vielleicht ist da doch ein Grundsatz, der renoviert werden sollte.)
Stellen Sie alles auf den Prüfstand! Das steht sogar in der konservativen Bibel (die gar nicht so vermauert ist, wie viele meinen):
"Prüfet aber alles, und haltet das Gute fest!"
Die Bibel, 1. Thessalonicher 5,21
(Ein Post-it mit diesem Spruch erblickte ich vor einigen Wochen am Computer-Bildschirm eines Automobil-Entwicklers; jetzt weiß ich, warum er so innovativ ist!)
Einigen wir uns auf folgendes: Vermauert sein ist ungünstig. Ohne Grundsätze alles und jedes akzeptieren ist auch ungünstig. Wie wäre es damit: Alles auf den Prüfstand stellen (und damit auch neuen Dingen eine Chance geben) und das Gute übernehmen!