Mitreden kann nur, wer es erlebt hat


Kategorie: Reden Leben
| 17.11.2015 | 1 Kommentare

Viele Leute - wir gehören manchmal dazu - quatschen viel dummes Zeug. Besonders nervig sind ungebetene Ratschläge von Besserwissern, die gar nicht wissen, wovon sie reden. Weil sie es nicht erlebt haben.

Darüber habe ich mich gerade gemeinsam mit meiner Designerin aufgeregt. Sie ist Mutter zweier Kinder und sagte mir soeben: "Kommentare über unsere Erziehung ärgern mich besonders, wenn sie von Leuten kommen, die gar keine Kinder haben." Dem kann ich nur zustimmen. Bevor ich das weiter ausführe, nun aber zunächst das Zitat.

Es stammt von Carl Gustav Jung. Er war Psychoanalytiker und von daher doch berufen, im Seelenleben seiner Patienten mitzureden, oder? Offensichtlich war er vorsichtig, was das angeht:

„Bekanntlich versteht man in psychologischer Hinsicht gar nichts, was man nicht selber erfahren hat."

Carl Gustav Jung: Gesammelte Werke XVII, S. 226
 
Es geht hier übrigens nicht um das Thema "Kritik". Natürlich muss ich nicht alles toll finden, was meine Designerin mit ihrem Sohn oder ihrer Tochter anstellt (ob ich es ihr mitteile, ist eine andere Frage). Nein, hier geht es darum, ob ich Verständnis für ihre Situation "in psychologischer Hinsicht" habe. Und das kann ich nur haben, wenn ich das erlebt habe, was sie erlebt hat.

Erlauben Sie mir ein persönliches Beispiel. Ich wurde mit fünf Jahren adoptiert. Was meinen Sie, was ich in meiner Kindheit an nicht sehr weisen Kommentaren (gar nicht böse gemeint) gehört habe. Von Leuten, die einfach nicht beurteilen können, wie ein adoptiertes Kind fühlt. Und warum? Weil sie es nicht besser wussten. Und warum wussten sie es nicht besser? Weil sie selbst nicht adoptiert wurden. Ich kann ihnen keinen Vorwurf machen - außer dass sie nicht die Klappe gehalten haben.

Ich bin leider nicht besser. Ich bekenne mich schuldig, dass ich oft genug über andere "in psychologischer Hinsicht" geurteilt habe, ohne erlebt zu haben, was sie erlebt haben. Zum Beispiel eine schwere Krankheit oder einen unausstehlichen Bruder oder eine Kündigung oder oder. Doch wenn ich dann schließlich in eine vergleichbare Situation "in psychologischer Hinsicht" kam, dann konnte ich sie auf einmal verstehen, zumindest besser verstehen. Oder wie meine Designerin gerade ebenfalls sagte: "Wenn man Kinder hat, verschiebt sich der Blickwinkel auf Erziehung."

Daher Lehre Nr. 1:
Seien Sie vorsichtig, was das Verurteilen von anderen angeht! Erst wenn sie es selbst erlebt haben, können Sie mitreden. Und selbst dann sollten Sie vorsichtig sein.

Lehre Nr. 2:
Lassen Sie sich nicht irre machen vom Gequatsche anderer Leute "in psychologischer Hinsicht". Das heißt nicht, dass Sie berechtigte Kritik nicht annehmen sollten. Aber wenn jemand kein Verständnis für Sie hat - dann hat er eben kein Verständnis. Sie sind trotzdem okay. 

Achtung: Ich merke gerade, dass ich sehr einseitig war: Es muss sich nicht nur um schlimme Erlebnisse handeln. Um bei dem Eltern-Beispiel zu bleiben. Nur wer Vater oder Mutter ist, kann mitreden über die schönen Seiten der Elternschaft "in psychologischer Hinsicht".

Und noch etwas: Es lohnt sich nicht, zu versuchen, anderen Ihre Situation "in psychologischer Hinsicht" nahezubringen. Sie werden Sie nicht verstehen, wie auch Meister Jung wusste:

„Niemand, der die innere Erfahrung nicht wirklich kennt, ist imstande, einen anderen von ihr zu überzeugen. Reden allein - ganz gleich wie gut gemeint - wird nie überzeugen. Ich habe viele Menschen ohne religiöse Erziehung und ohne religiöse Einstellung behandelt, aber im Verlauf der Behandlung, eines in der Regel langen und schwierigen Unternehmens, machten sie natürlicherweise innere Erfahrungen, die ihnen zur richtigen Einstellung verhalfen.“

Carl Gustav Jung: Briefe II, S. 411

Also Lehre Nr. 3:
Seien Sie vorsichtig, andere mit Worten "in psychologischer Hinsicht" zu überzeugen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie nicht reif dafür sind. Noch nicht.

Die positive Lehre zum Schluss, Lehre Nr. 4:
Wenn Sie es selbst erlebt haben, sind Sie ein aussichtsreicher Kandidat anderen zu helfen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden. Sie haben die Autorität, Sie wissen Bescheid und haben - was schwierige Situationen angeht - die Demut, die nötig ist, um wirklich zu helfen.


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Kommentare: 1

Peter O. | 12:24 Uhr | 01.12.2015
Vielen Dank, Herr Dr. Lengen. Möchte Ihre Hinweise gerne mit dem Verweis auf Matthäus 7, Verse 1 - 5, ergänzen.
Alles Gute und herzliche Grüße aus Bayern
Peter O.
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