Diesen Artikel gäbe es nicht, wenn ich nicht den Trick angewandt hätte, den ich Ihnen im Folgenden präsentiere.
Reden wir nicht lange drumherum und schauen uns gleich den Trick an. Er stammt von Raymond Chandler, einem produktiven Krimi-Autor (wenn auch für meinen Geschmack zu düster-melancholisch):
„Der Berufsschriftsteller sollte einen bestimmten Zeitraum haben, sagen wir mindestens vier Stunden am Tag, wo er nichts anderes tut als schreiben. Er muss nicht unbedingt schreiben, und wenn ihm nicht danach ist, dann sollte er’s auch nicht versuchen.“
Raymond Chandler in einem Brief vom 18. März 1949 an Alex Barris, abgedruckt in: Raymond Chandler: Die simple Kunst des Mordes. Briefe, Essays, Notizen, eine Geschichte und ein Romanfragment, herausgegeben von Dorothy Gardiner und Kathrine Sorley Walker, aus dem Amerikanischen von Hans Wollschläger, Zürich 1975, S. 93f.
Was soll er denn dann machen, lieber Herr Chandler?
„Er kann aus dem Fenster schauen oder einen Kopfstand machen oder sich auf dem Fußboden schlängeln, aber soll nichts vollkommen anderes tun, soll nicht lesen, Briefe schreiben, in Zeitschriften blättern oder Schecks ausfüllen.“
Aha, und das funktioniert?
„Es ist das dieselbe Disziplin wie das Ordnunghalten in der Schule. Wenn man die Schüler so weit bringt, dass sie sich benehmen, werden sie auch was lernen, einfach schon um nicht der Langeweile zu verfallen.“
Da will ich Ihnen gern Recht geben, Herr Chandler. Ich beobachte bei vielen meiner Kunden - leider auch bei mir - dass sie viel zu wenig, manchmal gar nicht, an dem arbeiten, was ihre Berufung ist. Wir arbeiten den ganzen Tag, die ganze Woche, das ganze Jahr, das ganze Leben - aber bleiben meilenweit hinter unseren Erwartungen zurück, und zwar gerade in Bezug auf das, was uns wichtig ist.
Ich weiß zum Beispiel sehr wohl, dass ich mehr schreiben sollte. Doch irgendwie komme ich kaum dazu. Es gibt so viel zu tun! Denn es gibt neben "Schreiben" und "Langeweile" zwei weitere Alternativen, und zwar schlechte Alternativen:
Schlechte Alternative 1: Sich ablenken lassen von vielen anderen Anfragen
Zum einen werde ich ständig von anderen gebeten etwas zu tun, was nichts mit dem Schreiben zu tun hat: Ein Kunde will ein Seminar bei mir buchen; ein Freund fragt, ob ich seinem Sohn bei der Berufswahl helfen kann; meine Tochter fragt mich, ob ich ihr bei Mathe helfen kann usw. Was daran schlimm ist? Nichts! Ich bin froh, dass meine Seminare gebucht werden. Ich freue mich, meinem Freund einen Gefallen zu tun. Und ich bin hin und weg, dass meine Tochter tatsächlich denkt, ich könne ihr bei Mathe helfen.
Das Problem dabei: Es gibt keinen, der mich auf Knien bittet, endlich mein Buch zum Thema „Richtig kritisieren“ zu schreiben.Wenn ich also nur auf das achte, was andere von mir wollen, komme ich nicht zu dem, was mir wichtig ist (und womit ich hoffentlich andere viel weiter voranbringen kann, als wenn ich Anfragen abarbeite).
Das ist das Problem von vielen Freiberuflern, die am liebsten ganz andere Projekte machen würden, aber im Hamsterrad der Anfragen laufen. Das ist das Problem von vielen Menschen, die in ihrem Beruf unglücklich sind, sogar wissen, was sie eigentlich wollen - aber nicht dazu kommen, weil sie sich von ihrem Beruf und vielen anderen Anfragen in Beschlag nehmen lassen. Sie jammern, aber sie tun nichts dagegen. Oder jedenfalls zu wenig.
So, jetzt komme ich zu einer weiteren schlechten Alternative:
Schlechte Alternative 2: Sich selbst ablenken
Es ist schon schlimm genug, dass wir uns von anderen abhalten lassen, an dem zu arbeiten, was uns wichtig ist. Noch schlimmer ist es, dass wir uns selbst abhalten. Wie?
Bei Chandler war das „lesen, Briefe schreiben, in Zeitschriften blättern oder Schecks ausfüllen“. Bei uns ist das „lesen, E-Mails checken und beantworten, in Facebook, Youtube & Co. surfen, SMS oder what’s App schreiben“. Und die Klassiker, die Chandler zwar nicht nannte, aber kannte: „aufräumen, telefonieren und an den Kühlschrank gehen.“ Und noch eins, was scheinbar gar nicht so schlimm ist: An allem anderen arbeiten, nur nicht … Sie wissen schon.
Der Trick: Nur noch die Wahl lassen zwischen dem wichtigen Job und - Langeweile
Hier finde ich, kann uns die Langeweile-Keule von Chandler helfen: Entweder schreiben oder langweilen (Setzen Sie für "schreiben" das ein, was Ihnen wichtig ist) - auf keinen Fall aber eine der beiden schlechten Alternativen wählen, nämlich sich ablenken lassen oder sich selbst ablenken. Bei mir hat es heute funktioniert. Sonst hätte ich diesen Text nicht geschrieben.
Ich muss Ihnen allerdings gestehen, dass ich versucht war auszuscheren. Ich bekam eine E-Mail (wie habe ich das wohl gemerkt?): Eine Kundin bat mich darin um einen Gefallen. Ja, ich bin schwach geworden, ich habe die E-Mail gelesen. Aber dann sah Chandler mich scharf an, und die Alternative "sich ablenken lassen" fiel weg. Ich hatte nur noch die Wahl zwischen Langeweile und Schreiben. Ich entschied mich gegen die Langeweile und wandte mich wieder diesem Text zu.
So, geschafft! Ich bin mit diesem Text fertig. Jetzt ist meine Kundin dran. Sie wird meine Antwort erst eine halbe Stunde später bekommen. Ich finde, das ist tolerierbar. Aber wenn Sie mich fragen: Ich glaube, sie wird diese Verzögerung nicht einmal bemerken.
genauso sieht es jeden Tag aus bei mir!
liebe Grüße