"Wer genau weiß, was er von den Menschen im Allgemeinen und von jedem von ihnen im Besonderen erwarten darf, kann sich getrost ins Getümmel der Welt stürzen."
Jean de La Bruyère: Die Charaktere oder Die Sitten des Jahrhunderts, Kapitel "Vom Menschen", S. 271 in der Ausgabe von Gerhard Hess, Leipzig 1978.
Recht hat, der La Bruyère! Wir werden von anderen enttäuscht, weil wir uns in ihnen täuschen. Und wir täuschen uns in ihnen, weil wir zu viel von ihnen erwarten. Ich finde die Unterscheidung gut, die La Bruyère macht zwischen "den Menschen im Allgemeinen und von jedem von ihnen im Besonderen" und will darauf im Folgenden kurz eingehen.
Wissen, was man von den Menschen im allgemeinen erwarten darf
Also: Ich fürchte, wir haben zunächst einmal zu hohe Erwartungen an die Menschen im Allgemeinen. Menschen sind Egoisten, haben Schwächen und machen Fehler. Ich habe noch keinen getroffen, auf den diese Charakterisierung nicht zuträfe. Aber bei Menschen, mit denen wir zu tun haben, erwarten wir seltsamerweise eine Ausnahme.
Das funktioniert natürlich nicht. Auch uns gegenüber sind sie Egoisten, wir bekommen ihre Schwächen zu spüren und haben unter ihren Fehlern zu leiden. Wenn wir das im Voraus einkalkulieren, können wir weniger enttäuscht werden.
Was für den Menschen allgemein gilt, gilt auch für Eltern im Allgemeinen - sowie Kinder, Ehepartner, Freunde, Vorgesetzte, Mitarbeiter, Kunden (und so weiter) im Allgemeinen.
KInder sollten von Eltern nicht zu viel erwarten. Diese sind leider nicht vollkommen und haben genug mit sich selbst zu tun, schon allein damit, die Wunden zu überwinden, die sie selbst in ihrer Kindheit abbekommen haben.
Eltern sollten nicht zu viel von Kindern erwarten, erst recht wenn diese erwachsen sind und - Sie können sich vorstellen, was kommt - genug mit sich, ihrem Job und ihren Partnern und Kindern zu tun haben.
Ehepartner sollten nicht zu viel voneinander erwarten. Sie haben ein zwar liebreizendes, aber nichtsdestotrotz zutiefst egoistisches Wesen geheiratet mit Macken, die mit jedem Jahr unangenehmer werden. Und kein Ehepartner der Welt kann dem anderen das an Liebe erstatten, was dieser von seinen Eltern zu wenig bekommen hat.
Kein Vorgesetzter der Welt ist einzig und allein davon durchdrungen, seine Mitarbeiter voranzubringen, ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Und kein Mitarbeiter der Welt ist bis zur Selbstaufgabe loyal seinem Vorgesetzten oder seinem Unternehmen gegenüber. Kein Kunde der Welt stellt das Wohl des Lieferanten über sein eigenes. Und so weiter. Und so weiter.
Wenn wir das alles anerkennen und unsere Erwartungen im Allgemeinen herunterschrauben, ist schon viel gewonnen.
Wissen, was man von einem bestimmten Menschen erwarten darf
Kommen wir jetzt zu Ihren Eltern, Ihrem Ehepartner, Ihrer Chefin und so weiter. Egoisten sind sie alle, das wissen wir. Doch jeder einzelne hat außerdem seine besonderen Stärken und Schwächen, Talente und Defizite. Wenn ich zum Beispiel weiß, dass mein Nachbar dazu neigt, Versprechungen zu machen, die er nicht einhält - dann sollte ich nicht erwarten, dass er mir gegenüber aufs Peinlichste genau Wort hält.
Wenn ich weiß, dass eine Mitarbeiterin selbst das Wort "Rechtschreibung" nicht richtig schreibt, dann ist es nicht klug, sie meine Manuskipte Korrektur lesen zu lassen.
Vielleicht haben Sie es schon gemerkt: Die Erwartungen können sich beziehen auf ...
a) charakterliche Stärken und Schwächen (Versprechen nicht einhalten)
b) fachliche Stärken und Schwächen (schlechte Rechtschreibung).
Viel mehr gibt es nicht zu sagen. Halten Sie häufiger inne und fragen Sie sich: "Was kann ich von meinem Gegenüber erwarten?" Und zwar im Allgemeinen und Besonderen. Das wird Ihnen sehr helfen!
Auch von mir dürfen Sie nicht zu viel erwarten. Zum Beispiel, dass das Zitat zu Beginn das Beste ist, was zu diesem Thema gesagt wurde.
Noch knackiger hat das Ganze nämlich der von mir geschätzte William Somerset Maugham gesagt. Er gilt nicht umsonst als so genannter "realistischer Autor" (was für mich heißt, dass er die Menschen durchschaut hat und sie beschreibt, wie sie sind). Sein Tipp:
"Es ist ein guter Grundsatz, von niemandem mehr zu verlangen, als er ohne Schwierigkeiten geben kann."
William Sommerset Maugham: Notizbuch eines Schriftstellers. Aus dem Englischen von Irene Muehlon und Simone Stölzel. Herausgegeben und mit einem Essay von Thomas und Simone Stölzel, Zürich 2004, S. 120.
Warum? Ja, in der Tat ist das Wort eine ursprünglich scherzhafte Mischung und damit eigentlich falsch. Nur, wie es nun einmal in der Sprache ist, wenn ganz ganz viele Leute etwas falsch sagen - wird es richtig! So hat der Duden denn auch das Wort aufgenommen. Und auf Wikipedia heißt es unter dem Stichwort "nichtsdestotrotz": "Obwohl ‚nichtsdestotrotz‘ ursprünglich keine ernsthafte Wortbildung war, hat das Wort sich inzwischen in der Standardsprache etabliert."
Ich hoffe, dass Sie mir nichtsdestotrotz, äh trotzdem verbunden bleiben!