Die Ich-habe-keine-Zeit-Lüge


Kategorie: Leben
| 17.07.2017 | 0 Kommentare

Seit mehreren Wochen wollte ich einen Blogartikel schreiben und einen Newsletter verschicken. Aber glauben Sie mir, ich hatte keine Zeit.

Nee, glauben Sie mir lieber nicht. Dostojewskij jedenfalls würde dies nicht tun. Denn in seinem Roman "Der Idiot" lässt er den Protagonisten folgendes sagen:

„Oh, meine Zeit erlaubt es mir sehr leicht, sie gehört nur mir allein.“

Fjodor Michailowitsch Dostojewskij: Der Idiot, übertragen von E.K. Rahsin, München 1954, Seite 42.

"Sie gehört nur mir allein" – Ist das nicht umwerfend? Als ich das las, musste ich laut lachen. Denn da wurde mir zum ersten Mal klar, wie absurd der Satz "Ich habe keine Zeit" ist. Er geht davon aus, dass wir gar nicht selbst über unsere Zeit verfügen. Dass sie uns sozusagen zugeteilt wird. Dass wir gar keinen Einfluss darauf haben, wie wir unsere Zeit verbringen.

Stundenweise mag das vielleicht zutreffen, zum Beispiel wenn wir im Job sind. Dann haben wir für anderes keine Zeit. Wir haben unsere Zeit verkauft, an den Arbeitgeber oder an den Kunden.

Nein, auch das stimmt nicht ganz. Am Freitag kriegte meine Frau einen Anruf von der Schule. Eine unserer Töchter hatte sich beim Schul-Kochen in den Finger geschnitten und war daraufhin kurz in Ohnmacht gefallen (Ich fürchte, das hat sie von mir: Ich kann kein Blut sehen). Meine Frau sagte daraufhin, sie hätte keine Zeit und ... Nein, natürlich hatte sie Zeit, ob im Job oder nicht. Sie fuhr hin zur Schule, und zwar sofort.


Wahrer Grund 1: Andere Prioritäten

Womit ich zur ersten wahren Begründung komme für die Tatsache, dass jemand "keine Zeit hat" oder gerade doch Zeit hat: Für meine Frau genießen die Kinder Priorität. Auch wenn sie eigentlich im Moment keine Zeit hat, auch wenn sie gerade etwas sehr, sehr Wichtiges macht, die Kinder sind wichtiger. In 99,7 Prozent der Fälle.

Also, die bittere Wahrheit ist: Wenn Ihre Freundin zu Ihnen sagt "Du, ich habe in den nächsten drei Monaten wegen der Prüfung keine Zeit, mich mit Dir zu treffen" – dann stimmt das leider nicht. Sie hat einfach eine andere Priorität. Und das ist in diesem Fall die Prüfung. Und leider nicht nur die. Denn drei Monate! Hallo? Da macht sie nichts anderes als für die Prüfung zu lernen? Nichts anderes? Und sie trifft sich mit nichts und niemandem?


Wahrer Grund 2: Keine Lust

Gut, andere Prioritäten sind ein Grund, warum Sie oder ich keine Zeit für etwas haben. Hat es also daran gelegen, dass ich diesen Blogartikel so lange vor mir hergeschoben habe?

Die Formulierung "vor mir hergeschoben" verrät es: Nein, es gab einen anderen Grund: Ich hatte schlichtweg keine Lust dazu. Es gibt ja so viele schöne andere Sachen zu tun! Von der Priorität ist das Verfassen dieses Artikels wichtiger als so manches andere, aber ich hatte immer eine gute Ausrede, es nicht zu tun.

Hier kommen wir schnell auf ein wichtiges Thema, nämlich das der Selbstmotivation und des Sich-Selbst-In-den-Hinterntretens. Einen tollen Tipp des Krimi-Autoren Raymond-Chandler hatte ich dazu hier schon veröffentlicht.


Wahrer Grund 3: Perfektionismus

Jetzt kommt der dritte Grund. Auch er ist schuld daran, dass ich mich nicht hingesetzt habe und den Blogartikel einfach heruntergeschrieben habe. Ich wollte es zu perfekt machen. Beim Nachdenken über dieses Thema fielen mir so viele Sachen ein. Ich hatte Angst, es nicht gut genug zu machen - und ließ es daher ganz sein.

Hier helfen gut Deadlines. Denn wenn es fertig sein muss, muss es fertig sein. Dann eben nicht ganz so perfekt, aber Hauptsache fertig. So wie mein Standnachbar auf der Leipziger Messe. Er sagte mir er habe sich nur deswegen zur Messe angemeldet, weil er dadurch gezwungen sei, sein Buch fertigzustellen und zu drucken.


Und jetzt?

Okay. Was bringt jetzt dieser Artikel? Sollen Sie jetzt jedem, der Ihnen den Satz sagt "Ich habe keine Zeit" entgegentröten: "Nein, das ist eine Lüge! Dir ist anderes wichtiger" oder "Nein, es liegt an etwas anderem: Du hast keine Lust"? - Nein, natürlich nicht. Spielen Sie das Höflichkeitsspiel mit und denken Sie sich Ihr Teil. Gestehen Sie anderen zu, dass Sie andere Prioriäten oder keine Lust haben! Schlucken Sie die Kröte, dass keiner von uns – und somit auch Sie – bei jemandem anderen immer Pirorität ist.

Wenn es Ihnen aber wichtig ist, wenn es etwas zu klären gibt, dann reden Sie Tacheles! Dabei müssen Sie gar nicht darauf herumreiten, dass der Satz "Ich habe keine Zeit" eine Lüge ist. Wenn zum Beispiel Mitarbeiter zu mir diesen Satz sagten und sich damit vor einer wichtigen Aufgabe drücken wollten, reichte es, wenn ich nur sagte: "Sie sollten sich die Zeit dafür nehmen!" Okay, nicht immer, aber das ist eine andere Sache.

Wem Sie jedoch jederzeit sagen dürfen "Du hast andere Prioritäten" oder "Du hast keine Lust", das sind Sie selbst! Erlauben Sie es sich nicht, sich selbst in die Tasche zu lügen. Packen Sie an, was wichtig ist. Und wenn Sie selbst nicht stark genug sind, sich zu ermahnen, dann suchen Sie sich jemand anderen.

Und wenn Sie wirklich andere Prioritäten oder auch keine Lust haben, etwas zu tun, dann tun Sie es eben nicht. Mit der echten Begründung. Und mit reinem Gewissen.


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