Also: Soll man sich umgeben mit Leuten, die sich ihrer Schwachheiten und Fehler bewusst sind und richtig schön demütig sind? Ja, besser als mit uneinsichtigen Persönchen. Doch noch besser ist es, wenn zur Demut noch etwas Anderes hinzukommt. Was das ist, sagt Goethes Mutter im Anschluss an die im letzten Artikel zitierte Passage:
„Aber das Gute, das wir haben, müssen wir auch wissen, das ist ebenso nötig, ebenso nützlich, – ein Mensch, der nicht weiß, was er gilt, der nicht seine Kraft kennt, folglich keinen Glauben an sich hat, ist ein Tropf, der keinen festen Schritt und Tritt hat, sondern ewig im Gängelbande geht und in saeculum saeculorum [= bis in alle Ewigkeit] – Kind bleibt.“
Katharina Elisabeth Goethe in einem Brief vom 9. September 1784 an Friedrich von Stein, in: Frau Rath. Briefwechsel von Katharina Elisabeth Goethe, herausgegeben von Robert Keil, Leipzig 1871, Brief Nr. 27, S. 225.
Aha, hier haben wir die andere Seite der Medaille! Bleiben wir beim Thema „Mitarbeiterauswahl“: Mit uneinsichtigen Bewerbern wollte ich nichts zu tun haben. Da musste ich nicht lange überlegen. Was ich hingegen leidvoll lernen musste: Wer zunächst demütig gut rüberkam, es aber mit der Demut übertrieb, war auch nicht zu gebrauchen. Das mangelnde Selbstbewusstsein limitierte diese Person, nicht nur, aber besonders im Kontakt mit Kunden.
Es nützte übrigens nichts, dass ich einen solchen Mitarbeiter lobte und anderweitig versuchte, ihn aufzurichten. Selbstbewusstsein kann nicht von außen injiziert werden. Falls doch, nennen Sie mir bitte das Serum. Ich würde gern ein paar Liter davon bestellen.
Mir fällt eine meiner ersten Bewerberinnen ein. Sie hatte den Schreibtest mit Bravour bestanden. Sie wurde meine erste Mitarbeiterin. Ich war stolz auf sie und stolz auf mich. Ich kaufte voll Vorfreude einen Blumenstrauß für ihren ersten Arbeitstag. Sie kam - aber nur um zu sagen, dass sie sich den Job nicht zutraue! Ich wusste, dass sie das Zeug hatte, es zu schaffen. Doch alles Zureden half nichts. Blumen gab es übrigens nie wieder am ersten Arbeitstag. Schluchz!
Kommen wir zu uns beiden. Demut ist wichtig und gut. Doch zugleich sollten wir uns unserer Stärken bewusst sein. Und sie nicht für selbstverständlich nehmen. Jeder von uns beiden ist einzigartig.
Noch etwas: Beim Coaching von Führungskräften ist meiner Erfahrung nach selten fehlende Demut das Problem, sondern eher fehlendes Selbstbewusstsein. Das Dumme daran: Das spüren Mitarbeiter, und zwar schnell.
Wir verneigen uns schnell noch vor Goethes Mutter und nehmen mit: Eine hervorragende Persönlichkeit zeichnet sich durch zweierlei aus – Demut und Selbstbewusstsein.
Ich hatte als Führungskraft auch die von Ihnen beschriebenen Mitarbeitertypen, viel Wissen, exzellente Fähigkeiten, kaum Selbstvertrauen. Ich habe diesen Mitarbeiter dabei geholfen, Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln. Dazu habe ich ihnen nach und nach immer schwierigere Aufgaben übertragen. Begonnen habe ich mit Aufgaben, die sie sich selbst zutrauten und dann den Schwierigkeitsgrad sukzessive erhöht, sodass die übertragene Aufgabe immer eine kleine Herausforderung für den Mitarbeiter darstellte. Mit den positiven Erfahrungen aus den bewältigten Aufgaben kein Problem.
Nach eingehendem Studium der Situationen von Menschen ohne Selbstwertgefühl steht für mich persönlich fest: Es hat genau das, was Sie als "mühsam" beschreiben, bei diesen Menschen noch nie stattgefunden: Eine kontinuierliche Bestätigung des Könnens und des In-Ordnung-Seins. Die Mühsal, die Sie spüren, ist die zusätzliche Workload, die Sie von den Eltern und Ausbildern dieser Menschen aufgebürdet bekamen. Irgendwer hat diese Mühe an sie durchgereicht.
Das in diesem Sinne mehr oder weniger völlige Fehlen des Segnens der Kinder durch ihre Eltern scheint mir mittlerweile eine Volkskrankheit zu sein, die vielleicht besonders typisch für uns Deutsche ist. Ein Mensch habe zu leisten. Das sei normal und keiner Erwähnung wert.
Hut ab, Frau Baake, Sie tun diesen Menschen einen lebensverändernden Dienst.